Status der polizeilichen Meldedienste im Sommer 2016

Eine aktuelle Presseanfrage von POLICE-IT beim Bundesministerium des Innern deckt vorsintflutliche Zustände auf beim Informationsaustausch zwischen den Polizeibehörden von Bund und Ländern:
‚Hart an der Bankrotterklärung‘ hatten wir vor drei Wochen einen Artikel [1] überschrieben, in dem es um den Informationsaustausch zwischen Polizeibehörden in Deutschland ging. Anlass dafür war eine Anfrage der Linksfraktion im Deutschen Bundestag [2] und die Antwort dazu aus dem BMI [2]. Leider waren darin ganz wesentliche Fragen nur sehr ausweichend beantwortet. Die jetzt vorliegenden Antworten zeigen: Die Wirklichkeit gleicht einem Desaster. Und wirft die Frage auf: Wollen Bund und Länder überhaupt Informationen miteinander teilen? Wenn ja: Warum weichen dann die tatsächlich verfügbaren und genutzten Möglichkeiten so eklatant ab von den politischen Willens- und Absichtserklärungen, insbesondere des Bundesinnenministers?

Die Auswertung

Begonnen hatte alles mit einer Kleinen Anfrage der Linksfraktion im Deutschen Bundestag [2]. Die wollte von der Bundesregierung umfassend Auskunft haben zum Stand und Nutzen des polizeilichen Informationsaustauschs zwischen den Ländern und dem Bund. Die Antworten [2] fielen spärlich aus, teilweise fehlten sie ganz. Daher fragte POLICE-IT bei der Pressestelle im Bundesinnenministerium nach. Und erhielt, das ist die positive Nachricht, auch eine ausführliche Antwort.

Was wurde gefragt?

Konkret ging es bei dem Fragenkomplex um die Fähigkeit der Landespolizeibehörden, Informationen aus dem landeseigenen Fallbearbeitungssystem automatisiert an die Zentralstelle beim BKA zu übertragen. Denn nur eine automatisierte Übertragung von relevanten Informationen, die im Landesdatensystem jedes Landes ohnehin schon zur Verfügung stehen, gewährleistet eine effektive und zeitnahe Verfügbarkeit solcher Informationen im Verbundsystem – also auf Bundesebene und für alle berechtigten Teilnehmer.

Für solche Verbundsysteme gilt das Prinzip der Zweckbindung: D.h. die Informationen im jeweiligen „Datentopf“ müssen zu einem bestimmten Zweck erhoben, gespeichert und miteinander geteilt werden. Also z.B. zur Gefahrenabwehr von terroristischen Gefahren oder zur Strafverfolgung bei Kinderpornographie. Entsprechend den diversen Zwecken, gibt es auch diverse solche „Datentöpfe“. Rund vierzig davon sind bundesweit und über einen einzelnen Anlass hinaus, also dauerhaft, relevant.

Die vier zur Auswertung herangezogenen Verbunddateien

Und vier dieser Verbunddateien wurden in der Anfrage – beispielhaft – herangezogen, nämlich

  • BAO-Lagefall – eine Verbunddatei zur anlassbezogenen Sammlung von Hinweisen und Spuren im Falle einer bundesweit aufgerufenen BAO-Lage,
  • Streugut – eine Verbunddatei, die nur anlassbezogen, nach großen Unglücks-, Katastrophen- und Anschlagsfällen zum Einsatz kommt und die der Erfassung von Gegenständen dient, die am Tatort/Unglücksort aufgefunden werden;
  • FUSIO – eine dauerhaft genutzte Verbunddatei zur Bekämpfung der Rockerkriminalität, sowie
  • DOK DEO/EiVer – eine dauerhaft genutzte Verbunddatei für das derzeit so aktuelle Thema von Wohnungseinbrüchen und Eigentumsdelikten, wozu auch KFZ-Diebstähle und Diebstähle von Arbeits- und Landmaschinen gehören.

Automatisierte Datenanlieferung – rechtliche und technische Voraussetzungen

Rechtsgrundlagen für Verbunddateien

Für diese und andere Verbunddateien ist das Bundeskriminalamt nach §11, Abs. 1 des BKA-Gesetzes die Zentralstelle. Das BKA hat dafür nach §2, Abs. 3 BKAG ein eigenes Informationssystem zu unterhalten. Die Bundesländer sind nach §13, Abs. 1 BKAG zur Datenanlieferung verpflichtet. Einzelheiten regelt zusätzlich die jeweilige Errichtungsanordnung für die einzelne Verbunddatei.

Verbunddateien und Meldedienste

Verbunddateien sind die „Datentöpfe“, in denen die Informationen aus den so genannten Meldedienstengesammelt werden. Meldedienste sind ein seit Jahrzehnten gebräuchliches Verfahren, um Informationen zu bestimmten, polizeilich relevanten Ereignissen von überregionaler Bedeutung zu erfassen, zu melden und letztlich in einem bundesweiten Verbundsystem zu sammeln und für alle berechtigten Anwender aus Polizeibehörden für die Abfrage und Auswertung zur Verfügung zu stellen.

Automatisierten Datenanlieferung via BLDS – wie geht das praktisch?

Das vom BKA verwendete Informationssystem für die angefragten Verbunddateien ist INPOL-Fall [3]. Dieses System ist seit ca. 2003 beim BKA im Einsatz und wird als Datenbank-Plattform für die im Verbund betriebenen Meldedienste eingesetzt. INPOL-Fall ist, so sagt die Antwort aus dem BMI, aktuell auch die Datenbank-Plattform für die Antiterrordatei (ATD) und für die Rechtsextremismusdatei (RED).

Für die automatisierte Datenanlieferung bei INPOL-Fall stellt das BKA schon seit 2006 die Bund-Länder-Datei-Schnittstelle (BLDS) zur Verfügung. Diese Schnittstelle stellt die Brücke dar zwischen dem Landesdatensystem (Quellsystem) und dem jeweiligen Zielsystem, also der Verbunddatei beim BKA.

Das Fallbearbeitungssystem eines Bundeslandes (=Quellsystem) muss entsprechend ausgerüstet sein, damit es Daten via BLDS-Schnittstelle bei der Verbunddatei beim BKA anliefern kann: Dazu gehören im Einzelnen diese Funktionen:

  • Ein dazu berechtigter Nutzer kennzeichnet die Informationen, die für die Übermittlung an die Verbunddatei relevant sind.
  • So gekennzeichnete Informationen werden aufbereitet und in eine Form und Struktur verpackt, die von der Zielanwendung beim BKA verstanden wird: Einzelheiten sind individuell und unterscheiden sich (leider) von Verbunddatei zu Verbunddatei.
  • Die so aufbereiteten und verpackten Informations“pakete“ werden nach den Regeln des BLDS-Übertragungsverfahrens an das BKA versendet.
  • Dort werden die von einem Verbundpartner empfangenen Informations“pakete“ auf Einhaltung aller Regeln überprüft und, sofern sie fehlerfrei sind, in die Verbunddatei importiert.
  • Im Fehlerfall erhält der Absender eine Fehlermitteilung und soll – nach Korrektur des Fehlers – erneut anliefern.

Die aktuelle, wichtige Bedeutung von INPOL-Fall | PIAV ist dazu noch auf Jahre keine Alternative

INPOL-Fall mit seiner BLDS-Schnittstelle ist also derzeit das zentrale Zielsystem für solche Verbundanwendungen, die in zahlreichen Meldediensten, aber eben auch in den beiden wesentlichen Dateien zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit Bezug zur BRD (Antiterrordatei) und gewaltbezogenem Rechtsextremismus (Rechtsextremismusdatei) genutzt werden. PIAV, der polizeiliche Informations- und Analyseverbund, wird als Alternative für das Teilen von Informationen zwischen Ländern und dem Bund noch auf Jahre keine vergleichbare Rolle in der Praxis spielen. Das muss bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden.

Ergebnisse 1: Automatisierte Anlieferung bei den verschiedenen Verbunddateien

Grad der automatisierten Anlieferung bei den untersuchten Verbunddateien

Keine einzige der untersuchten vier Verbunddateien wird aus allen Bundesländern automatisiert beliefert.
Das ist ein wesentliches Ergebnis der Auswertung. Diese Tatsache hat gravierende Konsequenzen:

  • In keiner einzigen Verbunddatei liegt ein Informationsbestand vor, der vollständig alle Erkenntnisse aus allen Bundesländern umfasst.

Sieben der sechzehn Bundesländer beliefern keine einzige Verbunddatei automatisiert, sondern erfassen grundsätzlich manuell.

  • Das bedeutet zusätzlichen Aufwand, weil an sich schon (im Landessystem) vorhandene Informationen noch einmal abgetippt werden müssen.
  • Es bedeutet auch Zeitverzug bei der Erfassung. Denn es kann Tage dauern, bis jemand in der Landesbehörde die Zeit hat, Daten in der Verbunddatei einzutippen.
  • Und es besteht die Gefahr, dass an sich vorhandene Informationen aus Gründen der Arbeitsbelastung überhaupt nicht in der Verbunddatei erfasst werden. Um dies zu erreichen, müssten Informationen lediglich als „nicht übermittlungsrelevant“ eingestuft werden. Und wer sollte das im jeweiligen Landessystem später schon überprüfen können?!

Automatisierte Belieferung der Verbunddatei BAO-Lagefall

Immerhin sieben Bundesländer können die BAO-Lagefall via BLDS beschicken. Das bedeutet:

  • Spuren und Hinweise aus der Bevölkerung stehen in einem bundesweit aufgerufenen BAO-Lagefall aus knapp der Hälfte aller Länder relativ zeitnah im gemeinsam genutzten Verbundsystem zur Verfügung.

Doch neun Länder müssen – gerade in solchen Zeiten besonderer personeller und fachlicher Belastung! – relevante Hinweise manuell eintippen!

  • Das bedeutet, dass manuell erfasste Informationen u.U. Tage später erfasst werden, als sie tatsächlich bei der Landespolizeibehörde bekannt geworden sind.
  • Die Verbunddatei stellt den Entscheidern der BAO daher niemals einen aktuellen, vollständigen Informationsbestand zur Verfügung.
  • Sie verfügen damit nicht über die Erkenntnislage, die bei sämtlichen Polizeibehörden tatsächlich vorhanden ist.
  • Dass das entscheidende Glied („Missing Link“) in der Erkenntniskette zwar eigentlich bekannt ist, aber als solches nicht erkannt wird, dass in Folge dessen notwendige Entscheidungen nicht getroffen werden können, das kann heute noch genauso passieren, wie zur Zeit der Schleyer-Entführung. Und Menschenleben kosten … [4]

Automatisierte Belieferung der Verbunddatei DOK DEO/EiVer

Gerade einmal vier Länder können die Verbunddatei DOK DEO/EiVer automatisiert beliefern. Diese Verbundanwendung ist der vorgesehene „Datentopf“, um Informationen aus allen Ländern über die stark gestiegenen Fälle von Eigentumsdelikten und Wohnungseinbrüchen in einer zentralen Verbunddatei zu sammeln und miteinander abzugleichen. Aus dem Bundesinnenministerium war in den letzten Wochen zu hören, dass Wohnungseinbrüche von organisierten Tätergruppierungen begangen werden. Eine gemeinsam beschickte Verbunddatei wäre also unabdingbar, um Informationen über die so häufig bemühten „Tat-Tat-“ und „Tat-Täter-Zusammenhänge“ überhaupt erst einmal in einem System zu sammeln und dann erkennen zu können. Der geringe Grad der automatisierten Belieferung dieser Verbunddatei steht allerdings im eklatanten Widerspruch zum politisch erklärten Bedarf. Dass zwölf Bundesländer in dieser Datei ausschließlich manuell erfassen, passt auch überhaupt nicht zu den aus allen Ländern zu hörenden Klagen über die personelle Belastung der Polizei: Vielleicht sollten einige Innenminister die Idee mit schnell besohlten Wachpolizisten aufgeben und stattdessen gut ausgebildete Datenerfassungskräfte einstellen?! Das würde die jeweilige Polizei tatsächlich entlasten!

Automatisierte Belieferung der Verbunddatei Streugut

Ebenfalls vier Bundesländer können bei der Verbunddatei Streugut automatisiert anliefern. Da eine solche Verbunddatei nur anlassbezogen, d.h. nach einem herausragenden Unglücks-/Katastrophen-/ Anschlagsfall eingerichtet und genutzt wird, kommt ihr jedoch bei weitem nicht die Bedeutung zu wie die dauerhaft notwendige Verbunddatei DOK DEO/EiVer für Eigentums- und Vermögensdelikte.

Automatisierte Belieferung der Verbunddatei FUSIO

Gerade noch zwei Bundesländer, nämlich Bayern und Brandenburg (mit POLYGON) können nach Auskunft des BMI die Verbunddatei FUSIO automatisiert beliefern. Vierzehn andere Länder erfassen verbundrelevante Informationen über Rockerkriminalität ausschließlich manuell. Auch das steht im deutlichen Widerspruch zu den Absichts- und Willenserklärungen der Politik über Rockerkriminalität. Und die Notwendigkeit des behördenübergreifenden Teilens von Informationen über eine Kriminalitätsform, die gemeinhin als „Organisierte Kriminalität“ bezeichnet wird.

Ergebnisse 2: Die Fähigkeiten der eingesetzten Fallbearbeitungssysteme zur automatisierten Anlieferung via BLDS-Schnittstelle

In den betrachteten, sechzehn Bundesländern sind drei Fallbearbeitungssysteme als „Quellsysteme“ im Einsatz:

  • CRIME, eine weitgehend behörden-eigene Entwicklung der IPCC-Kooperation in den Ländern Baden-Württemberg, Hamburg und Hessen, sowie – in Einführung begriffen – in Brandenburg,
  • Das polizeiliche Informationssystem POLYGON der gleichnamigen Firma als langjährig eingeführtes polizeiliches Informationssystem für die Unterstützung komplexer, kriminalpolizeilicher Ermittlungen in Brandenburg und
  • das Fallbearbeitungssystem RSCASE der Firma Rola Security Solutions GmbH und seine diversen Varianten, das unter verschiedenen Bezeichnungen in zehn Bundesländern, sowie beim BKA und bei der Bundespolizei im Einsatz ist.

Bayern und Brandenburg (mit POLYGON) gemeinsam auf dem Spitzenplatz

Nur zwei der sechzehn Bundesländern sind in der Lage, alle vier abgefragten Verbunddateien via BLDS-Schnittstelle automatisiert zu beliefern: Das sind Bayern und Brandenburg. Wobei diese Aussage für Brandenburg nur gilt, sofern als Quellsystem POLYGON zum Einsatz kommt.

Die Fähigkeiten der Crime-Länder zur automatisierten Anlieferung via BLDS

Von den CRIME-Ländern, so sagt es die Antwort aus dem BMI, kann Baden-Württemberg die Verbunddateien BAO-Lagefall und Streugut automatisiert beliefern, Hamburg nur die Streugut, Hessen nur die BAO-Lagefall. An die Verbunddatei FUSIO (Rockerkriminalität) und DOK DEO/EiVer (Eigentums- und Vermögensdelikte) kann keines der drei CRIME-Länder automatisiert anliefern.

Die Fähigkeiten der Rola-Länder [a] zur automatisierten Anlieferung via BLDS

Bayern beweist, dass eine Datenanlieferung via BLDS-Schnittstelle an INPOL-Fall-Verbundanwendungen möglich ist, auch wenn ein Fallbearbeitungssystem von Rola eingesetzt wird: Dieses System heißt in Bayern EASY und soll eine gemeinsame Entwicklung sein des Landeskriminalamts Bayern mit dem Hersteller, der Firma Rola.

Das Ergebnis der Auswertung für die sonstigen Rola-Länder ist jedoch außerordentlich ernüchternd. Denn für sechs Rola-Länder heißt Informationsaustausch in der Praxis: Erneute manuelle Erfassung! Und zwar für sämtliche in der Auswertung betrachteten Verbunddateien. Dies gilt für Berlin und Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen, sowie Saarland und Sachsen-Anhalt.

Zumindest eine Verbundanwendung via BLDS beliefern können Schleswig-Holstein (BAO-Lagefall), Sachsen (DOK DEO/EiVer) und Rheinland-Pfalz (BAO-Lagefall)

Thüringen, so die Auskunft aus dem BMI, muss in allen Fällen manuell erfassen. Ob und welches Fallbearbeitungssystem dort aktuell verwendet wird, ist nicht bekannt.

Und Nordrhein-Westfalen, an sich ebenfalls ein Rola-Land, kann zwei Verbundanwendungen via BLDS beschicken, nämlich BAO-Lagefall und DOK DEO/EiVer. Uns liegen allerdings keine Informationen darüber vor, ob dies tatsächlich direkt aus dem Rola-/CASE-System heraus erfolgt.

Ursachen für das aktuelle Desaster beim polizeilichen Informationsaustausch

Doch woran liegt es, dass die vorhandenen Verbunddateien nur von einzelnen Ländern automatisiert beliefert werden? Warum hat sich in der Bundesrepublik, fast vierzig Jahre nach der Schleyer-Entführung und dem Höcherl-Bericht, so gut wie nichts verändert? Obwohl inzwischen Unsummen in die Verbesserung der Möglichkeiten zum „polizeilichen Informationsaustausch“ gesteckt wurden?
Wir kennen die Antworten nicht auf solche Fragen. Es gibt jedoch einige harte Fakten, die zu denken geben:

Fahrlässige Vernachlässigung von INPOL-Fall

INPOL-Fall, das bestätigt die Antwort aus dem BMI ganz deutlich, ist nach wie vor die Datenbank-Plattform für die Meldesystem/Verbundanwendungen, sowie für die Antiterrordatei (ATD) und Rechtsextremismusdatei (RED). INPOL-Fall ist aktuell also das gemeinsame polizeiliche Informationssystem für die Verunddateien und Meldesysteme und somit eine extrem wichtige, technische Komponente für den Informationsverbund der Polizeien in Deutschland.

Und wird das noch lange bleiben: Denn für den PIAV, den polizeilichen Informations- und Analyseverbund, wird zwar seit Jahren konzipiert, geplant und entwickelt. Mehr als ein Wirkbetrieb für einen sehr beschränkten Kreis von Ereignissen (Straftaten unter Nutzung von Schusswaffen bzw. Sprengstoffen – deckt gerade mal 0,5% aller Straftaten ab), ist bisher in der Praxis nicht zu sehen. Und für zahlreiche Verbunddateien, die heute mit INPOL-Fall geführt werden, ist noch gar nicht absehbar, ob und wann entsprechende Alternativen mit dem PIAV zur Verfügung stehen.

INPOL-Fall wird absichtlich ausgehungert und totgespart

Zur großen Bedeutung von INPOL-Fall in der Praxis passt es überhaupt nicht, dass der IT-Direktor des BKA und der Projektverantwortliche für INPOL-Fall gegenüber der Autorin schon vor neun Jahren erklärt haben, man nähme beim BKA „keinen Euro mehr“ in die Hand für die weitere Entwicklung von INPOL-Fall. Denn der PIAV, der polizeiliche Informations- und Analyseverbund, stünde ja vor der Türe. Das war 2007! Wir schreiben heute das Jahr 2016 und vom PIAV ist auf breiter Basis noch lange nichts zu sehen.

Seit 2008 wurden für die Pflege von INPOL-Fall und der BLDS-Schnittstelle gerade einmal 6,6 Millionen Euro ausgewendet. So steht es in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage im Bundestag. Ein, gemessen an der langen Zeit und den Anforderungen, absolut lächerlicher Betrag. Für PIAV wurden – allein auf Bundesebene – 22 Millionen Euro projektiert (wieviel tatsächlich ausgegeben wurde, ist öffentlich nicht bekannt). Weitere 44 Millionen Euro an PIAV_relevanten Ausgaben waren für die Länder budgetiert. Doch während von einem flächendeckenden Wirkbetrieb des finanziell üppig ausgestatteten PIAV noch auf Jahre nicht die Rede sein kann, rührt sich kaum eine Hand mehr für das System, das „polizeilichen Informationsaustausch“ tatsächlich leisten soll und auch leisten könnte, wenn man es nicht tothungern würde.

Fahrlässig oberflächliche, negative Bewertungen zu INPOL-Fall

Die Konferenz der Innenminister, die für den PIAV sozusagen der oberste Auftraggeber ist, hatte ausdrücklich veranlasst, dass bei einer Bewertung von Lösungsmöglichkeiten für den PIAV auch INPOL-Fall betrachtet wird. Das sah die Fraktion, die unbedingt weg wollte von INPOL-Fall als Gefahr an. Produziert wurde eine Studie, in der mit einem Federstrich erklärt wurde, dass INPOL-Fall für den PIAV nicht in Frage komme. Erklärt wurde dies von einer Expertengruppe für die Fachlichkeit (also Experten für kriminalpolizei-fachliche Fragen), denen schlicht die Kompetenz fehlt, die technischen Leistungsmerkmale von INPOL-Fall zu beurteilen. Diese Leute waren/sind Polizeibeamte, keine Datenbank-Fachleute! [Mehr zu diesem Thema in [5]]

INPOL-Fall und BLDS – bewusster Verzicht auf ein einheitliches Informationsmodell?!

Was INPOL-Fall und sein vorgeschaltetes Datenanlieferungsverfahren, die BLDS-Schnittstelle, kompliziert macht, sind die vielen unterschiedlichen Informationsmodelle in den verschiedenen INPOL-Fall-Verbunddateien. Damit ist gemeint, welche Art von Information jeweils in der Verbunddatei gespeichert werden kann (Personen, Adressen, Fahrzeuge, Sachen, usw.). Und wie diese Informationselemente miteinander verknüpft werden dürfen. Da gibt es öffentlich nachzulesende Beispiele dafür, dass Personen, Fahrzeuge oder Telefonverbindungen in einer Verbunddatei jeweils eigenständige Objekte sind, die miteinander durch Beziehungen verbunden werden. In einer anderen Datei ist die Adresse oder Telefonverbindung eingebetterer Teil im Objekttyp Person.

Ein solcher Wildwuchs macht es sehr aufwändig und kompliziert, eine Datenanlieferung via BLDS-Verfahren aus einem Landessystem zu programmieren. Weil letztlich für jede Verbunddatei, die automatisiert beliefert werden soll, eine eigene Variante geschrieben und fortlaufend gepflegt werden muss.

Eine seit Jahren überfällige Verbesserung wäre die Vereinheitlichung der diversen, unterschiedlichen Informationsmodelle in den diversen mit INPOL-Fall betriebenen Verbunddateien. Denn ein einheitliches Informationsmodell erleichtert und vereinfacht die Implementierung einer Schnittstelle zum entsprechenden Zielsystem ganz ungemein. Aus diesem Grund ist ja auch für PIAV das gemeinsame Informationsmodell Polizei (IMP) der von Anfang an gesetzte Standard.

Und es fehlt ja nicht an solchen Informationsmodellen. Dieses liegt vor in der BKA-Datenverarbeitungsverordnung (BKA-DV). Auch das gerade genannte Informationsmodell Polizei ist seit Jahren ein definierter Standard. Warum war es dann bisher nicht möglich, in den diversen Meldesystem/Verbunddateien und den mit INPOL-Fall betriebenen Terrorismusbekämpfungs-Dateien – dort schon bei der Gesetzgebung, siehe ATDG und REDG! – auf ein einheitliches, standardisiertes Informationsmodell zu achten?!
Warum ist das Informationsmodell Polizei nicht längst zur Basis gemacht worden für die Informationsmodelle der Verbunddateien. Oder, wenn wieder einmal die berühmten fachlichen Anforderungen dafür den Ausschlag gegeben haben sollten: Wieviel Kostenaufwand kann man sich leisten und wieviel Informationsverlust (, weil es keine automatisierte Anlieferung gibt,) glaubt man in Kauf nehmen zu können um den Preis solcher fachlicher Schnörkel??

Datenanlieferung via BLDS-Schnittstelle – von jedem Fallbearbeitungssystem aus machbar

Die Auswertung zeigt allerdings auch, dass jedes der drei in Frage kommenden Fallbearbeitungssysteme in der Lage ist, eine automatisierte Übertragung via BLDS zu realisieren. EASY in Bayern und POLYGON in Brandenburg verfügen über Varianten der BLDS-Schnittstelle für alle vier in der Auswertung betrachteten Verbunddateien, CRIME kann zumindest BAO-Lagefall und Streugut beliefern. Die geringe Nutzung im Durchschnitt aller Länder kann also nicht daran liegen, dass es grundsätzliche technische Probleme gibt bei der Implementierung und Nutzung des BLDS-VErfahrens zur Datenanlieferung aus dem Landesfallbearbeitungssystem.

Wollen die Länder vielleicht gar keine Information mit anderen Ländern bzw. dem Bund teilen?

Was die meisten Länder betreiben, ist Erfüllung eines Minimalstandards. Ja, ok, sie liefern Informationen an! Dass dies nur manuell geschieht, mit Zeitverzögerung und – vermutlich – in vielen Fällen gar nicht, dafür gibt es viele Begründungen. Würde aus Sicht der Länder das Teilen von Informationen keinen Schaden verursachen („wer weiß, was wir wissen?!“) bzw. mehr Nutzen bringen, sähe dann die Situation nicht ganz anders aus? Liegt die eigentliche Ursache für das allensfalls minmalistische Teilen vonInformationen mit anderen Ländern und dem Bund im relevanter im seit Jahrzehnten anhaltenden, nicht ausgefochtenen Kampf zwischen „Polizeiarbeit ist Ländersache“ und dem steten Bemühen des Bundes um mehr Einfluss und Teilhabe an polizeilichen Erkenntnissen?!

Prohibitive Preise bei Rola – welche Strategie steckt dahinter?

Auffallend ist an der Betrachtung der Art der Belieferung der vier Verbunddateien, dass sechs von neun Rola-Ländern keine einzige Verbunddatei automatisiert beliefern und drei weitere nur eine davon. Liegt das an den hohen Preisen, die der Hersteller für die Anbindung jeder einzelnen Verbunddatei verlangt?! Schon vor Jahren war im Markt von sechsstelligen Preisen die Rede für die BDLS-Schnittstelle eines Landes zu einer bestimmten Verbunddatei. Dass sich viele Länder dann x-fache Lizenzgebühren für die Anbindung an x Verbunddateien aus ihrem Rola-System via BLDS nicht leisten können, ist nachvollziehbar. [Mehr zur Preispolitik der Firma Rola in [6]] Wir wissen es nicht. Jedoch: Die Frage stellt sich und wäre dringend zu beantworten.

Genauso, wie die Frage, welche Strategie eigentlich das BMI und BKA verfolgen, beim seit Jahren andauernden Aushungern von INPOL-Fall. Denn eigentlich hat das BKA die gesetzliche Aufgabe des „Zentralsystems für den elektronischen Datenverbund zwischen Bund und Ländern“. Und hat in Erfüllung dieser Aufgabe als Zentralstelle ein polizeiliches Informationssystem zu unterhalten. Aktuell! Heute! Und nicht in x Jahren – vielleicht einmal …

Fußnote

[a]   Als „Rola-Länder“ werden verkürzend die Polizeibehörden der Bundesländer bezeichnet, die eine Variante des Fallbearbeitungssystems RSCase der Firma Rola Security Solutions GmbH einsetzen. Bundesländer mit Rola-Fallbearbeitungssystem sind (Stand: 2015/2016): Bayern (EASY), Berlin (CASA), Bremen (Name unbekannt), Mecklenburg-Vorpommern (ZEUS), Nordrhein-Westfalen (CASE), Niedersachsen (SAFIR), Rheinland-Pfalz mit Saarland (KRISTAL), Sachsen (EFAS), Sachsen-Anhalt (Name unbekannt), Schleswig-Holstein (MERLIN)

Über die Autorin

Die Autorin, Annette Brückner, war von 1993 bis 2013 tätig als Projektleiterin für das Polizeiliche Informationssystem POLYGON. Und in dieser Funktion über mehrere Jahre auch immer wieder befasst mit Konzepten und Projekten des Informationsaustauschs zwischen Polizeibehörden, der Entwicklung mehrerer Anwendungen zur Anlieferung an INPOL-Fall-Verbunddateien mit Varianten der BLDS-Schnittstelle und der Entwicklung und Pflege des für alle Deliktsbereiche harmonisierten Informationsmodells in POLYGON, sowie einem Pilotprojekt, bei dem das damalige PIAV-Konzept und das Informationsmodell Polizei (IMP) – eine wesentliche Grundlage für den PIAV – in einem Praxistext [erfolgreich] erprobt wurden.

Quellen

[1]   Hart an der Bankrotterklärung: BMI zum Funktionieren des polizeilichen Informationsaustauschs, 24.05.2016, POLICE-IT
https://police-it.net/hart-an-der-bankrotterklaerung-bmi-zur-funktionsweise-des-polizeilichen-informationsaustauschs

[2]   Funktionsweise des Informationsaustauschs zwischen Polizeibehörden in Deutschland, Antwort auf die Kleine Afrage der Linksfraktion, 23.05.2016, DBT-Drs. 18/8533, Deutscher Bundestag
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/085/1808533.pdf

[3]   Weit besser als sein Ruf: Inpol-Fall, der Vorläufer des PIAV, 03.10.2013, POLICE-IT
https://police-it.net/weit-besser-als-sein-ruf-inpol-fall-der-vorlaeufer-des-piav-4335

[4]   Zum Höcherl-Bericht: Empfehlungen der Bund-Länder-Kommission Rechtsextremismus: Lernerfahrungen?!, 24.05.2013, POLYGON-Blog
http://blog.polygon.de/polpolis/lernerfahrungen-2245

[5]   Fünf Jahre, viele Kommissionen und noch mehr Papier (2007 – 2012): Polizeilicher Informationsaustausch und der PIAV [4], 20.04.2016, POLICE-IT
https://police-it.net/polizeilicher-informationsaustausch-und-der-piav-4

[6]   Zur Preispolitik der Firma Rola: PIAV als Goldgrube, 29.01.2016, POLICE-IT
https://police-it.net/piav-als-goldgrube

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