Intelligence Analysis ist ein Fachbegriff, für den es eine treffende deutsche Bezeichnung bisher nicht gibt. Auch die scheinbar naheliegende Übersetzung von „Intelligence“ mit Intelligenz ist nicht zielführend. Ebenso wenig ist „Intelligence Analysis“ etwas, das nur von „Intelligence Services, also Nachrichten- bzw. Geheimdiensten benutzt wird.
Intelligence Analysis, Polizei und Sicherheitsbehörden
Intelligence Analysis ist nicht gleichzusetzen mit „Intelligence Services“, also Nachrichten- oder Geheimdiensten. Allerdings befinden sich Polizei und Sicherheitsbehörden häufig konfrontiert mit der Anforderung, Erkenntnisse aus unvollständigen oder im Gegenteil auch überwältigend vielen Einzelinformationen erschließen und in den richtigen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang bringen zu müssen. Intelligence Analysis bietet dafür eine Vielzahl von Methoden. Diese wurden vor allem seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den amerikanischen Sicherheitsbehörden und entsprechenden Ausbildungseinrichtungen (weiter-)entwickelt. Der aktuelle Stand dieser Methoden, Prozesse und Werkzeuge wird unter der Bezeichnung „Structured Analytic Techniques for Intelligence Analysis“ zusammengefasst. Doch trotz der starken Bindung an und Herkunft aus amerikanischen Diensten beschreiben diese Techniken kein spezifisches nachrichtendienstliches Know-How. [a]
Die Psychologie menschlicher Entscheidungen
Sie beruhen vielmehr aus der grundlegenden Erkenntnis aus der Psychologie menschlicher Entscheidungen, dass es zwei grundlegende Formen des Denkens gibt: Intuitives Denken (aus dem Bauch heraus) und analytisches Denken.
- Intuitives Denken ist schnell, effizient und läuft häufig unbewusst ab. Es beruht auf dem (beim einzelnen Entscheider) vorhandenen Wissen, seinen Erfahrungen au der Vergangenheit und – sehr häufig – auf einem langjährig entwickelten Denkmodell wie Leute oder Dinge in einer bestimmten Umgebung „funktionieren“ [Beispiel: Tötungsdelikte zum Nachteil südländischer Kleingewerbetreibender sind Beziehungsprobleme bzw. haben einen OK-Hintergrund]. Es ist sehr verlockend, sich auf intuitives Denken zu verlassen, da man kaum Vorbereitungen braucht und es den Entscheidern erlaubt, rasch und effektiv Probleme zu lösen und zu Bewertungen zu kommen. Obwohl intuitiv zustande gekommene Entscheidungen häufig richtig sind, ist das rein intuitive Denken häufig auch eine Quelle für Voreingenommenheit und andere Fehlannahmen, die zu falschen analytischen Ergebnissen führen.
- Analytisches Denken ist langsames, absichtliches und bewusstes logisches Denken. Abgesehen davon, dass es vielen Leuten „vom Typ her“ nicht liegt, wird analytisches Denken häufig auch deshalb abgelehnt, weil man (angeblich) in der gegebenen Situation keine Zeit hat für dieses Vorgehen. Dabei zeigt die Erfahrung, dass die Anwendung von systematischen analytischen Techniken vor allem eine Frage der Ausbildung und Gewöhnung ist. Und, wenn beides vorhanden ist, mindestens ebenso schnell oder schneller von statten geht, als das intuitive Vorgehen und den großen Vorteil hat, dass Voreingenommenheiten und Denkfehler weitgehend ausgeschlossen werden können. Darüber hinaus eignet sich nur das analytische Denken auch dazu, in Teams zusammen zu arbeiten und alle Teammitglieder über den Stand der Erkenntnisse und Schlussfolgerungen auf gleichem Stand zu halten.
Über den Umgang mit Voreingenommenheiten, die zu Fehlern führen
Nahezu alle Voreingenommenheiten und falsche Annahmen (vielleicht mit Ausnahme verborgener persönlicher Interessen) resultieren aus dem intuitiven Denken. Dieses Problem wurde seit den frühen siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts von Verhaltensforschern ausführlich untersucht, insbesondere im Hinblick auf Entscheidungsfindungsprozesse in der Politik, Medizin, im Geschäftsleben und in Erziehung und Ausbildung. Diese wissenschaftlichen Grundlagen fanden Eingang in Grundlagen der „Intelligence Analysis“, die, anfangs durch Richard Heuer bei und für das FBI bzw. die CIA entwickelt wurde. Sein Werk [3] und darauf aufbauende Literatur kommt zu der Schlussfolgerung, dass dem Grundsatz nach bekannte Erkenntnisprobleme die wesentliche Ursache für analytische Fehler in den amerikanischen Diensten sind.
Intelligence Analysis – standardisierte Techniken, Methoden und Werkzeuge der amerikanischen Sicherheitsbehörden
In Folge der Anschläge vom 11. September 2001 wurde die wissenschaftlichen und methodischen Grundlagen der Intelligence Analysis in Amerika ausgebaut und vertieft. Als Erfolg dieser Bemühungen gilt, dass der Direktor der National Intelligence der Vereinigten Staaten im Juli 2008 ein Konzeptpapier vorgestellt und veröffentlicht hat mit dem Titel „Vision 2015: A Globally Networked and Integrated Intelligence Enterprise“ [4, 5]. Intelligence Analysis ist dort definiert als ein Gemeinschaftsvorhaben, bei dem der Fokus sich verschiebt „weg von der Produktion von Dokumenten im Entwurfsstadium hin zu einer regelmäßigen Diskussion der verfügbaren Informationen und der sich daraus ergebenden Hypothesen und zwar schon in einem sehr frühen Stadium eines Projekts.“ [6]
Deutschland hinkt um Lichtjahre hinterher …
Die deutschen Sicherheitsbehörden, insbesondere die außerhalb des Bundesnachrichtendienstes, hinken diesen Techniken, Methoden und Standards um Lichtjahre hinterher. Insbesondere ist nicht zu erkennen, dass Politik, die Leitungsebene der Behörden, die Ausbildungseinrichtungen oder die sonst medial so aktiven Vertreter der Polizeigewerkschaften auch nur die Notwendigkeit erkannt hätte, was zu tun ist, um Denkfehler und falsche Annahmen in der Arbeit der Sicherheitsbehörden zu reduzieren.
Ein generell weit verbreitetes Problem, insbesondere in der deutschen Polizei, macht die Sache nicht besser: Die Überzeugung nämlich, dass Fehler anderen überlassen werden und im eigenen Hause nicht vorkommen. Wenn jedoch doch, dann ist unter allen Umständen zu verhindern, dass dies bekannt wird und nach außen dringt. Der amerikanische Ansatz unterscheidet sich davon um 180 Grad, weil man Fehler für eine vollkommen selbstverständliche Komponente menschlichen Denkens und Handelns hält und sich aktiv darum bemüht, Fehler zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren.
Damit es nicht immer wieder zu „Ermittlungspannen“, „Versagen der Sicherheitsbehörden“ bei der Vermeidung bzw. Aufklärung von Anschlägen bzw. Straftaten u.ä. kommt, ist es unabdingbar, in den deutschen Sicherheitsbehörden endlich modernes, fehlerbewusstes Denken einzuführen und die notwendigen Intelligence Analysis Techniken, Methoden und Verfahren auszubilden und standardmäßig anzuwenden. Aus meiner Sicht auf der Grundlage von beruflichen Erfahrungen mit bzw. in deutschen Sicherheitsbehörden seit mehr als 25 Jahren wäre dies eine eine längst überfällige, allerdings derzeit nicht einmal im Ansatz erkennbare Veränderung zum Besseren.
Fußnote
[a] Intelligence Analysis ist vielmehr ein Set von Techniken, Methoden und Werkzeugen, das auch im Geschäftsleben (Business Intelligence / Competitive Intelligence), in der Wissenschaft (Scientific Intelligence) und – generell – bei jeder Betätigung geht, wo es darauf ankommt, richtige Entscheidungen zu treffen (Decision Support)._____________________________________________________________________________________________
Quellen und Belege
[1] Intelligence Analysis by Robert M. Clark, 1996, Scientific Technical Analysis Corporation [2] Structured Analytical Techniques for Intelligence Analysis, Richard J Heuer Jr. and Randolph H. Pherson, 2nd edition, CQ Press [3] Psychology of Intelligence Analysis, Federal Bureau Of Investigation und Richard J.Richard Jr. [4] Das amerikanische ‚Vision 2015‘-Konzept und die Politik der Inneren Sicherheit in Europa, 02.08.2013, CIVEShttp://cives.de/bnd-nsa-das-us-vision-2015-konzept-und-die-politik-der-inneren-sicherheit-in-europa-573 [5] “Vision 2015: A Globally Networked and Integrated Intelligence Enterprise“
Das dort erwähnte Originaldokument „Vision 2015: A Globally Networked and Integrated Intelligence Enterprise“ ist inzwischen nicht mehr online verfügbar. [6] Seite 13 in [5]